Mit political correctness und gut gemeinten staatsbürgerlichen Bekenntnissen ist den gegenwärtigen Gewaltexzessen nicht beizukommen – die soziale Basis unserer Gesellschaft erodiert, der Verdrängungskampf der Abgehängten und Perspektivlosen hat in aller Schärfe begonnen und reisst unsere Grenzen nieder.
Von Robert Zion
Die jahrzehntelange neoliberale Politik, die unsere Wirtschaft und Gesellschaft in einen Verdrängungskampf aller gegen alle umgewandelt hat, zeitigt nun ihre Folgen. Nun möchten kurz nach dem Eintreten einer auch aus diesem Grund vorhersehbaren Flüchtlingskrise Politiker aus Union und SPD die Leistungen für sogenannten „Wirtschaftsflüchtlinge“ vom Balkan kürzen, ja, sogar deren Zugang zu Bildung beschneiden. Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel hat die brandlegenden Nazis „Pack“ genannt. Welcher gute Staatsbürger würde ihm da widersprechen wollen? So mancher Sozialdemokrat wird auch schon die nach der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre – und Brüning’scher Austeritätspolitik – durch die Straßen marodierenden SA-Banden als „Pack“ bezeichnet haben, so mancher „Asylkritiker“ heute bezeichnet die hier Hilfe und Schutz suchenden Flüchtlinge als „Pack“. Als Angela Merkel Heidenau besuchte, schallte ihr dann auch gleich entgegen: „Wir sind das Pack!“
Wer jetzt allein glaubt, bei den ewigen Nazis bricht sich jetzt nur ein ohnehin bereits immer vorhandenes rassistisches und menschenverachtendes Menschenbild bahn, der macht es sich entschieden zu einfach. Ja: Der staatsbürgerliche Widerstand gegen den braunen Mob ist notwendig. Aber, wir haben es mit einer weit gefährlicheren Entwicklung zu tun. Die soziale Basis unserer Gesellschaft erodiert, der Verdrängungskampf der Abgehängten und Perspektivlosen hat in aller Schärfe begonnen und reisst unsere Grenzen nieder.
Die zu uns vor Krieg und Armut Flüchtenden kommen in eine Gesellschaft, in der seit 20 Jahren die Mittelschicht schrumpft, in der immer mehr ältere Menschen wegen stagnierender Renten in Armut rutschen, in denen die Vermögen bei so wenigen konzentriert sind, wie in keinem anderen Land der Eurozone, in dem Kinderhaben das größte Armutsrisiko ist. Es ist ein Land, in dem zwar so viele Menschen in Arbeit sind wie nie zuvor, für das aber die Universität Duisburg-Essen in einer Studie vor kurzem auch festgestellt hat: „Deutsche aus unteren Einkommensschichten hätten in vielen Branchen nur noch Zugang zu Minijobs und kurzer Teilzeitarbeit. Die Firmen bezahlten den meisten Minijobbern nicht die ihnen zustehenden Urlaubs- oder Krankheitstage. Außerdem entlasse das Bildungssystem zu viele Jugendliche ohne Berufsabschluss, die nur sporadisch oder in Teilzeit beschäftigt würden.“